Wie sieht Mobilität für alle mit weniger Verkehr aus? Welche Projekte und Ansätze zu einer öffentlichen und ökologisch nachhaltigen Mobilität gibt es? Welche Technologien und Infrastrukturen sind dafür notwendig? Wie lassen sich gerechte Übergänge gestalten – auch für Beschäftigte? Wie lassen sich Mehrheiten für eine Mobilitätswende gewinnen? Und wer sind die Gegner einer solchen Transformation? Wie also sieht eine radikal ökologische Politik aus, die zugleich Klassenpolitik ist?
DOSSIER „Spurwechsel“ der ROSALUXMobilität ist eine Frage der Gerechtigkeit und Beteiligung an der Gesellschaft, denn Mobilität ist nicht nur Verkehr, sondern viel mehr. Mobilität ist auch eine Klassenfrage.
Etwa die Hälfte der der Haushalte, die zu den 20 Prozent der Ärmsten gehören, besitzen kein Auto. In der einkommensstarken Hälfte der Bevölkerung leben weniger als 10 Prozent autofrei, während die Hälfte dieser Haushalte zwei oder mehr Fahrzeuge besitzt. (Nobis/ Kuhnimhof 2019)
Das Auto wurde im vergangenen Jahrhundert zum Massenprodukt und stellt sich aus Klassenperspektive in seiner Entwicklung durchaus ambivalent dar. Klassenunterschiede in der Mobilität drücken sich eher im Neben- und Gegeneinander verschiedener Fahrzeug-»Klassen« sowie in der Konkurrenz um den öffentlichen Raum zwischen verschiedenen Mobilitätsformen aus.
»Der Massenautomobilismus ist die Konkretisierung eines vollständigen Triumphs der bürgerlichen Ideologie auf der Ebene der Alltagspraxis:
Er begründet und unterhält die trügerische Vorstellung, dass sich jedes Individuum auf Kosten aller mehr Geltung verschaffen und bereichern kann.«
– André Gorz
Jeder mit einem Auto gefahrene Kilometer verursacht Kosten in Höhe von 15 Cent, in Summe 110 Milliarden Euro pro Jahr, die von der Gesellschaft getragen werden müssen. (Bieler/ Suter 2019) Gleichzeitig wohnen ärmere Menschen häufiger an stark befahrenen Straßen und Quartieren ohne Grünanlagen, obwohl sie durch häufig kleine Wohnungen umso mehr auf öffentlichen Raum angewiesen sind.
Die Fixierung auf den motorisierten Individualverkehr hat also ganz konkrete Auswirkungen. Eine gerechte Mobilitätspolitik braucht radikale Veränderung:
Die Nutzung des öffentlichen Straßenraums bedarf einer Demokratisierung, einer Neukonzeption unter Beteiligung aller relevanten Akteur:innen der Zivilgesellschaft und Wissenschaft! Die Mobilität setzt die breite Vielfalt sozialer Fragen auf die Agenda: Verteilungs- und Geschlechtergerechtigkeit, Teilhabe, Arbeitsbedingungen, Produktionsverhältnisse und Kultur.
Für eine radikale Transformationsperspektive der Mobilität!
So unterschiedlich unsere Städte aussehen, so ähnlich sind die in ihnen manifestierten patriarchalen und auf das männliche „Normal“ zugeschnittenen Verhältnisse, die wenige privilegieren und die Bedürfnisse vieler negieren. Die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs reproduziert patriarchale, rassistische und klassistische Herrschaftsverhältnisse, deren Zusammenhänge im Rahmen einer intersektionalen, feministischen Betrachtung Beachtung finden müssen.
Kein Objekt wird mehr für Versprechen wie Freiheit, Männlichkeit und zum Sehnsuchtsobjekt des Massenkonsums stilisiert als das Auto. Je stärker Infrastruktur und Mobilität auf motorisierte, individuelle Fortbewegung ausgerichtet wird, desto mehr wird öffentlicher Verkehr zurück gebaut, die Mobilität zu Fuß oder dem Rad schwieriger gemacht. Männer fahren im Durchschnitt mehr und größere Autos, doch auch für Frauen – häufig in prekärer, feminisierter Erwerbsarbeit – stellt das eigene Auto häufig einen unentbehrlichen Alltagsgegenstand dar.
Im Straßenverkehr wird das Recht des Stärkeren bedingungslos ausgelebt und findet gesellschaftlich weitgehend Akzeptanz. Die Dominanz des Autos ist Zurschaustellung männlicher Hegemonie und hält konstruierte Erwartungen an soziale und symbolische Macht aufrecht, die Weiblichkeit und vom „Normal“ abweichende Männlichkeit abwertet.
Frauen spielen mit 12 % in der Belegschaft der Automobilkonzerne (IG Metall 2010) eine auffällig kleine Rolle. Aber auch das Verkehrsministerium hatte noch nie eine Ministerin und auch die Stadtplanungen sind fast ausschließlich männlich und weiß. Mehr Frauen in diesen Positionen bringen eine notwendige Perspektive und geschlechtersensiblere Mobilität hervor, indem sie mit dem derzeitigen Modus brechen, Städte für männliche Konsum- und Produktionsmuster zu konzipieren und zu verwalten. Während bisherige Stadtentwicklungsplanung häufig von einer getrennten Wohn- und Arbeitssituation ausgehen, sind die alltäglichen Wege von Frauen häufig weniger linear und zeichnen sich durch eine größere Anzahl kleinerer und komplexerer Wege aus. Im Sinne einer feministischen Verkehrspolitik muss mit der Priorisierung schneller Autostraßen gebrochen und durch eine gute Verzahnung und Erreichbarkeit unterschiedlicher Mobilitätsangebote im unmittelbaren Wohnumfeld ersetzt werden.
Während hegemoniale Männlichkeit auf dem Prinzip des Stärkeren und damit auf Exklusivität basiert, muss eine feministische Mobilität Inklusivität und die Rücksichtnahme auf Schwächere und gesellschaftlich Benachteiligte priorisieren. Mobilität bedeutet die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Schon aus einem demokratischen Anspruch heraus muss sie allen zugänglich sein und ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge!
Radaktivist:innen und Stadtplaner:innen scheinen freiwillig Ihre Vorstellungen von Lobbyarbeit und umsetzerischer Phantasie zu begrenzen. Sogar für fahrradfreundliche Entscheidungsgremien scheint es dabei undenkbar, die begrenzten Ressourcen des Stadtraumes zu Gunsten des Umwetverbundes aus Fuß-, Rad- und öffentlichem Nahverkehr umzuwidmen.
In großen Debatten kommen wir kaum vor, nicht einmal, wenn es um den billionenschweren Green New Deal geht. Erfolgreiche Akteur:innen der Politik bringen ernstzunehmende Forderungen auf den Verhandlungstisch. Wir müssen groß denken und Großes fordern.
Wer könnte unser Vorbild sein? Vielleicht sollten wir uns ausgerechnet an der Autoindustrie orientieren.
»Wir dürfen nicht zulassen, dass die Autoindustrie weiterhin die Deutungshoheit über unsere Zukunft hat. Wenn wir jetzt keine größeren Visionen haben, werden wir vielleicht nie mehr die Chance dazu haben.
Lasst uns ein neues Verkehrssystem erschaffen, das umfassende Mobilität als ein Menschenrecht begreift und es allen, unabhängig von ihrem Alter oder Geschlecht, zugänglich macht. Mikromobilität ist eine zentrale Antwort auf die gesellschaftlichen und ökologischen Probleme unserer Zeit. Wenn wir sie nicht ernst nehmen, wer dann?«
– Terenig Topjian (LuXemburg 1/2020)
Der Autoindustrie gelang und gelingt es, das öffentliche Bewusstsein zu verändern, Infrastruktur für Autos ist gesellschaftliche Priorität. In einer auf das Auto ausgerichteten Infrastruktur ist das eigene Fahrzeug zu dem emotionalisierten Symbol maximalster individueller Freiheit stilisiert worden. Der Industrie gelang es dabei uns des wichtigsten öffentlichen Raumes zu berauben: der Straße.
Heute nur noch Mittel zum Zweck, waren Straßen über tausende Jahre der wichtigste Ort gesellschaftlicher Begegnung: es wurde gespielt, gehandelt, gequatscht, protestiert und gefeiert. Mit dem Verbot bei Rot über die Straße zu gehen, änderten sich auf ein Mal grundlegend die Spielregeln. Was folgte war die größte De-Facto-Privatisierung des öffentlichen Raums unserer Städte.
Unsere Visionen brauchen Größe. Eine Infrastruktur zurück zu den Bedürfnissen von Menschen. Weg von kleinen Initiativen hin zu Visionen, die Veränderung bringen. Öffentlicher Raum der Bedürfnisse verschiedener Gruppen und Generationen berücksichtigt und Innovationen der Mobilität hervorbringt. Eine Mobilität ohne Luftverschmutzung, gegen den Klimwandel und mit Sicherheit gegen Tote im Straßenverkehr.
In den 1930ern setzte die Autoindustrie ihre Pläne durch. Eine gigantische Infrastruktur wurde neu geschaffen. Heute brauchen wir ebenso große Visionen, um das Auto zu verdrängen.